Dresden Guide

Susanne Reichelt

Dörfer in der Stadt

am 27. Mai 2021 von Susanne Reichelt

Eine Radtour zu den alten Dorfkernen von Prohlis, Niedersedlitz, Reick und Lockwitz

Nach Lockwitz zurückzukehren, um das Wahrzeichen des Stadtteils – den Wetterfrosch – zu finden, hatte ich mir am Ende des Ausflugs nach Röhrsdorf und Borthen vorgenommen, und so setze ich mich heute auf’s Rad und suche mir einen Weg dorthin, der durch mehrere alte Dorfkerne führt. Davon haben wir viele in Dresden, die „witzigen“ Elbweindörfer zwischen Loschwitz und Pillnitz etwa, die dank ihrer Flussnähe, der charmanten Hangkulisse und des so beliebten Elbhangfestes längst kein Geheimtipp mehr sind. Mit Prohlis, Niedersedlitz und Reick dagegen verbindet man auch als recht ortskundiger Dresdner eher kein Dorfidyll, sondern denkt an Gewerbegebiete und teils verfallene Fabrikgebäude mit Eisenbahnanschluss oder an Plattenbauviertel und maroden DDR-Charme, an „Rückbau“, Sanierungsbedarf und – wenn man es positiv ausdrücken möchte – Entwicklungspotential.

Altreick – Oase zwischen Gewerbegebieten

Umso überraschender, wenn man mitten in der Stadt hier und da noch alte Gehöfte entdeckt, die an das bäuerliche Leben vor Jahrhunderten erinnern, als Dresden noch von seinen Mauern eingeschlossen war und eine halbe Tagesreise etwa vom Dorf Reick entfernt lag. Dieser Ortsname hat zwar nicht die typisch sorbische -itz- oder -witz-Endung, ist aber wohl auch slawischen Ursprungs. Von der Bezeichnung „ryk“ für Graben soll sich der Name herleiten. Zu entdecken ist heute hier allerdings kein Gewässer mehr, aber der Graben – der im Prohliser Landgraben aufgefangene Geberbach nämlich – fließt dennoch durch Reick, aber hier unterirdisch verrohrt.

Zugegeben, der vor den aufwändig sanierten, alten Höfen vorbeifließende Stadtverkehr, insbesondere die Straßenbahn mit ihren Oberleitungen, schränken die Illusion vom alten Dorf in der Stadt doch beträchtlich ein. Aber ein schmaler Fußweg, von alten Mauern gefasst, führt von der Straße weg in das „Hinterland“ der Gebäude. Und siehe da: Hier spielen Kinder ungestört in den Gärten zwischen blühenden alten Obstbäumen, eine Katze sonnt sich genüsslich mitten auf dem Weg, ja man hört sogar Hühner gackern und einen Hahn krähen! Aber es sind nur ein paar Schritte, die man durch dieses ländliche Paradies gehen kann, dann wird man unweigerlich wieder von der städtischen Realität eingeholt, hier an der Otto-Mohr-Straße in Form eines großen Gewerbeparks, der sich bis zur Lohrmannstraße und zur Bahnlinie erstreckt und von Straßen durchzogen wird, die nach ehemaligen Professoren der heutigen Technischen Universität benannt sind. Mit dem Anschluss an die Sächsisch-Böhmische Eisenbahn hatten sich im 19. Jh. viele Unternehmen entlang der Bahnstrecke angesiedelt, die dann in der DDR-Zeit in der Regel verstaatlicht und umstrukturiert wurden, in Reick etwa haben viele Dresdner bei Pentacon oder im VEB Elektromat gearbeitet, der sich eben auf jenem nun modernisierten Gewerbegebiet befand.

Prohlis, Palitzsch, Platte

Doch mir geht es ja heute um die alten Dörfer in der Stadt, die auf meinem Weg nach Lockwitz liegen. Auch Prohlis war ein solches Bauerndorf, und anders als das wegen der Nähe zur Bahnlinie stark von Kriegszerstörungen betroffene Reick war fast der gesamte Prohliser Dorfkern von den Bomben des 2. Weltkriegs verschont geblieben. Und doch ist heute nur ein einziges Gehöft erhalten geblieben.

Der gnadenlose Abriss setzte erst ein, als hier ab Mitte der 70er Jahre über 10.000 damals heiß begehrte moderne Neubauwohnungen errichtet wurden, damals ein sozialistisches Vorzeigeprojekt mit allem Drum und Dran, heute – sofern nicht schon abgerissen – verschmähter Plattenbau in wenig begehrter Stadtrandlage.

Im einzigen erhaltenen alten Bauernhof von Prohlis, dem Gut der Familie Hünichen, kann man in einem kleinen Museum der wechselvollen Geschichte des Ortes und dem Leben seines bekanntesten Bewohners Georg Palitzsch nachgehen. Er wird gern auch als Bauernastronom oder „gelehrter Bauer“ bezeichnet und hat es tatsächlich zu erstaunlichen wissenschaftlichen Verdiensten gebracht. Er war der erste, der 1758 die vorausgesagte Wiederkehr des Halleyschen Kometen entdeckte, seine Erkenntnisse wurden in einschlägigen Schriften veröffentlicht und von den größten Gelehrten seiner Zeit beachtet und gewürdigt. Und dass, obwohl er keine akademische Ausbildung hatte und sein Wissen rein autodidaktisch und durch eigene Beobachtung erworben hatte. Darüber hinaus hat er auch den ersten Blitzableiter auf dem Dresdner Schloss installiert und den Kartoffelanbau in Sachsen begründet, nach ihm sind nicht nur Straßen und Schulen in der Region benannt, sondern sogar drei Krater und ein Tal auf dem Mond!

Prohlis hatte sogar mal ein Schloss! Kein wirklich altes, erst am Ende des 19. Jahrhunderts kaufte die Lockwitzer Adelsfamilie Kap-herr ein Prohliser Grundstück und ließ ein schnörkeliges Gründerzeitschlösschen bauen, das ebenfalls den Bomben des 2. Weltkriegs entging und noch bis 1985 existierte, die letzten 5 Jahre vor seinem Abriss allerdings nur noch als Brandruine. Die Ursache des Feuers wurde nie ganz geklärt, aber dass so ein Gebäude nicht gerade in die sozialistische Neubausiedlung passte, liegt auf der Hand…

In Lockwitz werden wir auf die spannende Familiengeschichte der Kap-herrs noch einmal zu sprechen kommen. Auf dem Weg dahin radele ich aber noch durch Niedersedlitz, das auch noch einen überraschend umfangreichen Dorfkern aufzuweisen hat.

Das unbekannte Niedersedlitz

Unbekannt ist Niedersedlitz eigentlich nicht. Doch verbindet man als Dresdner mit diesem Stadtteil gedanklich vor allem wichtige Industriebetriebe, allen voran das „Sachsenwerk“, das bis heute an seine erfolgreiche Tradition des Elektromotorenbaus anknüpfen kann und ein wichtiger Arbeitgeber der Region ist. Aber auch andere namhafte Dresdner Firmen siedelten sich, begünstigt durch die Lage an der Eisenbahn, im 19. Jahrhundert hier an. In der Folge entstanden Arbeitersiedlungen und Fabrikantenvillen, Schulen, ein repräsentatives Rathaus. Das Ortszentrum verlagerte sich, doch fast unbemerkt blieb das alte Dorf erhalten und erinnert noch heute an die Anfänge des Ortes als mittelalterliche slawische Siedlung. Nichts anderes als Siedlung bedeutet der ursprüngliche Name Sedlice auch, das sich im Deutschen zu Sedlitz abschliff. Wenn es nun Niedersedlitz gibt, würde man vermuten, dass es auch ein Obersedlitz gäbe, so wie es Ober- und Niederwartha oder Ober- und Niederpoyritz gibt. Sedlitz bekam aber seinen Namensvorsatz, um es von den bei Heidenau gelegenen Orten Klein- und Großsedlitz zu unterscheiden.

Die alten Bauernhäuser mit ihren oft noch erhaltenen schönen Hofportalen stehen typischerweise mit ihren Giebeln zur Straße bzw. zum Flüsschen Lockwitz, die mitten durch den Ort fließt und ihm einen besonders lebendigen Charme verleiht. Schöne alte Bäume und in Bauernmanier angelegte Gärten lassen tatsächlich ländliches Flair aufkommen, obwohl die Bewohner der mühevoll sanierten Höfe heute wohl kaum mehr Felder bewirtschaften und Vieh halten.

Lockwitz an der Lockwitz

Dem Flüsschen Lockwitz muss ich nun nur noch gegen seine Fließrichtung folgen, um in den gleichnamigen Ortsteil zu gelangen, dessen Erkundung am Ende der Wanderung um die Obstplantagen zu kurz gekommen war. Lockwitz hat auch noch viel von seiner dörflichen Struktur bewahren können, obwohl auch dieser Ort von Industrie geprägt war und teilweise noch ist. Hier war es nicht die Sächsisch-Böhmische Eisenbahnlinie, die zur Ansiedlung der Betriebe führte, sondern die Lockwitz selbst, deren Wasserkraft man hier seit alters her für Mühlen nutzte, aus denen später diverse Industriebetriebe hervorgingen. Die Kelterei Lockwitzgrund und die Schokoladenfabrik Rüger sind die wohl bekanntesten davon. Ohne sie hätte es vermutlich auch die Lockwitztalbahn nicht gegeben, die ab 1906 zwischen Niedersedlitz und Kreischa als meterspurige Straßenbahn verkehrte. Wegen ihres zeitweiligen roten Anstrichs nannten die Leute sie „die rote Fliege“. Schade, dass sie 1977 aufgegeben wurde, aber spätestens dem verheerenden Jahrhunderthochwasser von 2002 wäre sie wohl endgültig zum Opfer gefallen. Immerhin kann man in Bad Schandau noch einen ihrer Triebwagen bei der Kirnitzschtalbahn begegnen.

An jenen 12. August 2002, als der große Regen kam und all die sonst so harmlosen Erzgebirgsflüsschen zu reißenden Strömen wurden, werden sich die Lockwitzer noch lange mit Schrecken erinnern. Auch am Wahrzeichen des Ortes, dem Wetterhäuschen mit dem berühmten Frosch obenauf, wird in einem der Schaukästen davon berichtet. Die Feuerwehr rettete damals den Frosch vorm Untergang und barg später die steinernen Teile der Säule aus der Lockwitz. Inzwischen konnte alles pikobello wieder hergestellt werden, dank Spendengelder auch die meteorologischen Instrumente in einer der 4 Vitrinen, so dass das Wetterhäuschen nun wieder so aussieht wie bei seiner Errichtung 1913.

Auch der Dorfkern von Lockwitz hat slawische Wurzeln, der Platz „Am Plan“ lässt die typische Rundlingsform des Dorfkerns noch erkennen. Der sorbische Ausdruck für Wiese ist im Namen enthalten, der sich also etwa mit Ort am Wiesengrund übersetzen ließe. Noch heute beherrscht den Ort aber vor allem das Schloss und die eigentümlich daran angebaute Kirche, deren Turm die beiden Gebäude verbindet und daher ein bisschen „eingeklemmt“ wirkt. Sie wurde um 1700 neu gebaut, als gerade die von Schönbergs Rittergutsbesitzer in Lockwitz waren. Die Besitzer wechselten immer wieder mal, jede Familie modernisierte den Adelssitz zu ihrer Zeit nach ihrem jeweiligen Geschmack.

Die Freiherren von Kap-herr

Schließlich erwarb 1866 ein Freiherr namens Hermann Christian von Kap-herr das Anwesen. Seine Familie stammte ursprünglich aus Norddeutschland und verwendete den auffälligen Bindestrich im Namen angeblich, um die unerwünschte Aussprache von Kapherr wie „Kaffer“ zu vermeiden. Hermann Christian hatte es als Unternehmer, Diplomat und Bankier in St. Petersburg zu Ansehen und beträchtlichem Wohlstand gebracht. Nun legte er sein Geld in Immobilien in und bei Dresden an, kaufte das stattliche Palais Oppenheim an der Bürgerwiese, ließ gleich daneben an der Parkstraße einen eleganten Familienwohnsitz im Stil der Semperschule errichten, erwarb in Prohlis ein Gut, auf das später jenes Schlösschen gebaut wurde, das wie schon erwähnt erst 1985 abgerissen wurde, außerdem kaufte er das Rittergut Bärenklause bei Kreischa und eben Schloss Lockwitz, das er seinem Sohn Carl Johann zur Nutzung überließ. Diesem blieb es dann vorbehalten, noch für eine standesgemäße Familiengrabstätte zu sorgen. Dafür ließ er auf dem Krähenhügel abseits des Ortes ein tempelartiges Mausoleum erbauen, in das auch die sterblichen Überreste seiner Eltern umgebettet wurden. Vom umtriebigen Vater habe ich gerade einiges berichtet, von seiner Mutter gibt es hingegen ein wunderschönes Gemälde von Julius Scholtz im Dresdner Albertinum, das sie wenige Jahre vor ihrem Tod mit ihrer Enkelin zeigt.

Die Familie Kap-herr wurde 1946 enteignet und auf der Insel Rügel interniert, von wo aus sie nach Westdeutschland fliehen konnte. Ihr Besitz in Sachsen war entweder im Krieg zerstört oder im Zuge der Bodenreform aufgeteilt und zweckentfremdet oder wie das Mausoleum dem Verfall preisgegeben worden. Nach der Wende konnten die Erben der Familie Teile des Vermögens zurückerwerben, und so wurde auch das Mausoleum aus dem Dornröschenschlaf geweckt, gesichert und instand gesetzt. Es lohnt sich, den Hügel hinaufzusteigen, nicht nur des Mausoleums wegen. Von hier schweift der Blick weit über das Elbtal zu den gegenüberliegenden Hängen, die zu dieser nun schon fortgeschrittenen Stunde vom Abendlicht angestrahlt werden. Hier bin ich nun angelangt, wo Stadt und Land tatsächlich ineinander übergehen, zwischen Feld und Wald. Und vom Berg geht es wieder ins Tal, in das des Maltegrabens nämlich, der nur bei starken Niederschlägen Wasser führt, das dann allerdings offenbar gewaltige Kraft entwickeln, das Bachbett gehörig auspülen und sogar große Bäume entwurzeln kann. Über die Straße „An der Malte“ hinweg, die beim Bau der A 17 zum Autobahnzubringer ausgebaut wurde, erreiche ich Lockwitz wieder, folge nun dem Flüsschen bis zu seiner Mündung in die Elbe bei Kleinzschachwitz und und freue mich beim Heimradeln, wieder ein interessantes Stück Dresdner Stadtteilgeschichte kennengelernt zu haben.

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Über mich About me À propos de moi


Susanne Reichelt

Bei Dresden geboren und aufgewachsen und an der Leipziger Universität zum Übersetzer und Dolmetscher für die englische und französische Sprache ausgebildet, lebe ich seit 1988 in Dresden und bin seit 1995 lizenzierte Stadtführerin und Mitglied im Berufsverband Dresdner Gästeführer. Meine Begeisterung für die Stadt, ihre reichen Kunstschätze und die reizvolle Umgebung möchte ich gern an Sie weitergeben!

Ich freue mich auf Ihre Anfrage und berate Sie gern bei Ihrer Reiseplanung!
Born near Dresden and trained as an interpreter and translator for English and French I have lived in Dresden since 1988 and worked as a free-lance tour guide in and around Dresden since 1995.

I would be happy to share with you my passion for the beautiful city of Dresden, its rich art collections and stunning surroundings. Please don’t hesitate to contact me for booking guiding services or asking any support you might need in preparing your trip to Saxony.

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Née près de Dresde et formée comme traductrice-interprète pour anglais et français j’habite Dresde depuis 1988 et travaille comme guide touristique indépendante à Dresde et ses alentours depuis 1995.

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